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AutorenbildHilda Steinkamp

"Es ist ein Ros entsprungen ..." - Eine weihnachtliche Einwanderungsgeschichte aus Potsdam

Aktualisiert: 25. Dez. 2022

Schritte in die Integration auf den Wegen der Sprache und Kultur

Christian Steyer und sein Berliner Solistenchor in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am 20.12.2022
"Es ist ein Ros entsprungen ..."

so singt der junge Berliner Solistenchor im Dezember 2022 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz. Erfrischend anders und ebenso packend wie innig - nach dem Arrangement von Komponist und Chorleiter Christian Steyer, jedes Jahr - bis auf die Corona-Auszeit - aufs Neue eigenwillig und anrührend.


Ein kleiner Kreis von ukrainischen Menschen aus meinem Integrationskurs in Potsdam genießt mit mir auf unserer dritten Exkursion seit Kursbeginn Mitte September 2022 besinnliche 90 Minuten lang ein besonderes Musikereignis.


Nicht alle meiner 24 Kursmitglieder konnten mitkommen zu dieser späten Stunde, mit Kindern zu Hause und Unterkünften weit verstreut zwischen Bad Beelitz, Potsdam und Berlin. Und nicht alle wollten kommen. Vier moslemische Kursteilnehmer lehnten den Konzertbesuch in einer christlichen Kirche in ihrem Gastland ab. Offenheit für kulturell Fremdes in der Gastkultur - so weit ist unsere Integrationsarbeit in drei Monaten mit dem Schwerpunkt deutsche Sprache noch nicht mit allen fortgeschritten.

... so verspricht das Musikprogramm im Advent 2022. Stimmt. Für jedes einzelne der 12 Lieder im voll besetzten Konzertraum der Berliner Kirche.




Und ich entdecke neu die bildliche Bedeutung des uralten Weihnachtsliedes "Es ist ein Ros entsprungen" für meinen Integrationskurs.


Erste zarte Knospen haben sich bis Dezember 2022 entwickelt in der Annäherung der ausländischen Kulturen und der deutschen Gesellschaft.

Die Bereitschaft junger Ukrainerinnen und Ukrainer zu einer Begegnung mit einem klassischen deutschen Kulturgut, das sich dann als mitreißend moderne Interpretation von altem Liedergut durch junge Solisten und einen junggebliebenen Chorleiter entfaltet, ist ebenso virulent ausgebildet wie ihr genussvolles Eintauchen in die Welt kommerzieller Luxusgüter auf den üppig ausgestatteten Etagen des KaDeWe. Mit dem Pfeil am rechten Bildrand (Mitte) geht es per Klick durch das Winter-Wunderland des weihnachtlichen Geschäftslebens in Berlin:


Erstaunlich dabei: Die jüngst Zugewanderten mit ihrem Verlust an beruflichem, finanziellem und gesellschaftlichem Status, den sie in ihrem Heimatland genießen konnten, zeigen nicht den geringsten Neidkomplex gegenüber gutsituierten Käuferschichten im Luxussegment. Dass auch am gesättigten Wirtschaftsstandort Deutschland die einheimische Kaufkraft hinter dem Konsumverhalten der ausländischen Kundschaft zurückfällt - das erstaunt sie schon eher.

"Ich erst Deutsch lerne, mache B1-Prüfung, dann arbeiten und kaufen später",

so der räsonierte Kommentar einer jungen Ukrainerin mit ihrem Faible für Labels bei Taschen und Schuhen - und einer sympathischen kommunikativen Kompetenz nach nur wenigen Wochen Anlaufzeit.


"... aus einer Wurzel zart"

- so geht die weihnachtliche Weise weiter. Und so fing unsere Integrationsgeschichte an.


Dem russischen Angriffskrieg und anderen politischen Brennpunkten in Afghanistan, Somalia und dem Sudan entflohen, gestrandet in Deutschland, über die verschlungenen Pfade der Einreise-Bürokratie in Berlin-Brandenburg gelandet und angemeldet im fünften Integrationskurs à 25 Personen bei der bbw Akademie für Betriebswirtschaftliche Weiterbildung - das waren die Anfänge meines Kurses Mitte September 2022. Am Standort Potsdam versammeln sich inzwischen in sieben Integrationskursen insgesamt 175 belastete, aber erwartungsvolle und zunehmend erleichterte Kriegsflüchtlinge seit Ausbruch der Aggressionen am 24. Februar 2022. Mit beispielhaftem Willen sind sie gekommen, wollen im Gastland alternative Wege beschreiten und Ziele erreichen. Selten sind es komplette Familien, die hierher geflüchtet sind. Oft sind es Frauen aus drei Generationen und meist fehlen die wehrhaften Männer, Väter und Söhne zwischen 18 und 60 Jahren, die im Land die Stellung halten.


Nach nur einer Woche tastender Schritte in die deutsche Sprache wage ich eine erste Exkursion in die Potsdamer Kulturlandschaft. Kein Wagnis, wie sich schnell herausstellt, sondern hoher Zuspruch vonseiten der motivierten Teilnehmer*innen, alle hellauf begeistert von ihrem handwerklichen Geschick und dem Schreiben von Hoffnungen und Wünschen in der Mutter- und Fremdsprache.


Eingeladen hatte die Potsdamer Künstlerin Doreen Stenzel in die Stadt- und Landesbibliothek Potsdam zu ihrem Workshop "Segel voller Hoffnung". Das Motto ist passgenau für die Ukrainer wie Araber und Afrikaner in meiner Gruppe.

Doreen Stenzel mit ihrem Segelschiffmodell

Der Workshop endet nach fünf Stunden kreativen Eifers mit einer reichen Produktpalette. Doreens Kunstinstallation reichert sich an mit einer Flotte kleiner Segelschiffe aus Peddigrohr und japanischem Seidenpapier, rund um das Mutterschiff der Künstlerin, und mit einer Serie hoffnungsvoller Wünsche auf Postkarten:

Berichte zum Workshop und zur Ausstellung finden sich hier in meinem Blog:


"Wie uns die Alten sungen ..."

Ins Jahr 2022 gebeamt: Die "Alten" wissen, dass Wachstum und Erfolg auf Anstrengung beruht. Arbeit bedeutet. Hüben wie drüben. Von nix kommt nix. Das wissen auch zielorientierte und belastbare Migrant*innen aus ihrer eigenen lebensgeschichtlichen Praxis.


Im Kursunterricht arbeiten und ackern wir, mit digitalen und papierenen Medien, paarweise, in Gruppen und im Plenum. Per Klick rechts geht's hier durch unsere Lernlandschaft:

Wir erproben, üben, wiederholen und testen. Wir stöbern in der deutschen Grammatik, bauen Sätze auf und um, sammeln Wortschatz und wenden ihn an, trainieren unsere Sprechorgane für die fremde Lautung, stellen uns vor, spielen Alltagssituationen in Rollengesprächen, schreiben uns die Finger wund in einfachen Texten wie Einladungen, Mitteilungen, Postkarten und E-Mails, privat und formell, schaffen ein Lehrbuch in 100 Stunden, will heißen: in 25 Tagen oder fünf Wochen, 600 Stunden sollen wir insgesamt durchhalten, dann noch 100 Stunden uns in Deutschlands Politik, Geschichte und Gesellschaft umsehen, wir verlangsamen und geben Gas, staunen und lächeln, haben Lust und Frust und Spaß. Sind immer da und zu allem bereit. Und händeln nebenher Geschäftliches mit Jobcenter, BAMF, Ärzten und Vermietern und Privates mit traumatisierten Schulkindern, frisch verliebten Teenies und getrennt lebenden Familienmitgliedern. Das pralle Leben über zwei Länder bzw. Kontinente gestreckt!


Und im Kursalltag lachen und feiern wir: die 100-Stunden-Schritte, die Geburtstage, die letzten Kurstage vor den Ferien. Und so nähern wir uns Schritt für Schritt an - sprachlich, menschlich, gesellschaftlich, kulturell. Die 13-Tage-Differenz zwischen westlich-gregorianischem und östlich-julianischem Kalender (eins der letzten Bande zwischen der Ukraine und Russland, das mit dem Weihnachtsfest 2022 weiter bröckeln soll, als ukrainische Familien im Heimat- wie im Gastland zeitgleich mit dem Westen feiern) überbrücken wir spielerisch mit vermehrtem Feiergenuss, so zum doppelten Nikolaustag am 6. und am 19. Dezember:



"... von Jesse war die Art"

Ja, irgendwie schon. Mit nahezu göttlichem Schaffensdrang gestalten unsere Neubürger*innen ihren Weg in die deutsche Gesellschaft. Nach drei Monaten im Integrationskurs ahnen die meisten und wissen die ersten, dass sie in Deutschland bleiben und ihren (auch wirtschaftlichen) Beitrag zu einem friedlichen Miteinander leisten wollen, selbst nach ihrem garantierten Aufenthaltsrecht von drei Jahren. Immerhin wartet der deutsche Arbeitsmarkt auf einen Zustrom an qualifizierten Fachkräften. Und das sind sie alle. Oder wollen es werden, die U/Ü20-Jährigen. Ihre dankbare Anerkennung für die humanitären, gesellschaftlichen wie (verhalten) militärischen Hilfeleistungen der Deutschen ist hoch und sitzt tief. Die Affinität zwischen der deutschen und der ukrainischen Kultur, mit vergleichbaren zivilen Standards auf beiden Seiten, erleichtert die Integration. Der gegenseitige Respekt für das national und geschichtlich Individuelle verhindert glücklicherweise die Assimilation der Zuwanderer in der Gastgesellschaft.

"... und hat ein Blümlein bracht / mitten im kalten Winter ..."

Ungewohnte Minustemperaturen Anfang Dezember 2022 bereiten bei strahlender Wintersonne das Klima für einen wärmenden Glühwein (für trinkfeste Ukrainer*innen) oder Kinderpunsch (für alkoholenthaltsame Muslime) auf dem Potsdamer Weihnachtsmarkt vor. Per Klick rechts am Bildrand schlendert man mit der Gruppe über den Weihnachtsmarkt:

Exkursion 2 ist mit einem fachlichen Auftrag verbunden: ein Verkaufsgespräch an einer Weihnachtsbude führen - und sich ggf. geschickt aus dem angebahnten Geschäft zurückziehen, ohne Kaufverpflichtung. Moritz, der Anbieter von Weinen und Spirituosen aus lokalem Anbau, lässt sich gern von charmanten Ukrainerinnen zur Verkostung ohne Umsatz verlocken (bitte per Pfeil am rechten Bildrand durch das mimisch belebte Budengespräch klicken):


"... wohl zu der halben Nacht!"

Die übliche Kurszeit am Nachmittag ist längst überschritten, das fröhliche Treiben auf dem Potsdamer Weihnachtsmarkt hält alle bis in die Dunkelheit im Bann. Das Gefühl von Freiheit und Sicherheit hängt nicht nur in der Luft. Es stärkt von innen den Gruppenzusammenhalt. Sie haben Wurzeln geschlagen.


Was sie noch nicht wissen: Deutsche Weihnachtsmärkte sind seit 2016 und dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin verstärkt im Fokus öffentlicher Sicherheitsmaßnahmen und Ordnungskräfte. Schüsse und Geiselnahme auf dem Dresdner Striezelmarkt am 3. Adventssamstag 2022 sind beunruhigende Ausnahmen. In Potsdam herrscht Frieden.

Die Stille Nacht wird in den Kursferien liegen. Also wird die letzte Stunde des letzten Kurstags am 22.12.2022

zum Feiertagsersatz.


Eine Weihnachtsfrauen-Tour durch die Räume der inzwischen auf sieben Kursgruppen angewachsenen Integrations-Etage in der bbw Akademie Potsdam haben sich Chefin Nina Hultgren und ihre Büromanagerin Madelyn Thormann einfallen lassen. Sie kommen mit reichen Gaben:

Mit Lebkuchenfiguren vom Feinsten. Mit anerkennenden Worten: "Ihr seht so froh aus. Immer noch?! Trotz der Arbeit, die immer schwerer wird."


Mit einem letzten Sprachinput für das ausgehende Jahr 2022:

https://www.bbw-gruppe.de/#

Und mit einer Friedensbotschaft für das neue Jahr 2023:

"Wir alle hoffen, dass 2023 Frieden einkehrt in eurer Land. Wir sind bei euch. Ihr seid nicht allein."

Die Willkommenskultur in der bbw Akademie Potsdam ist keine auf Flyern gedruckte Werbekampagne. Sie wird gelebt. Sie ist der Nährboden für das weitere Wachsen der "Ros ... aus einer Wurzel zart".


Arbeit in der Sprachenkultur gibt es zuhauf in der bbw Akademie Potsdam:

  • Die ersten Abschlussprüfungen, international standardisierte TELC-Tests (The European Language Certificates), auf dem Sprachlevel B 1 haben im Dezember 2022 stattgefunden, fünf weitere folgen von Januar bis April/Mai 2023.

  • Mit einem TELC-Sprachenzertifikat B 1 können unsere Teilnehmer*innen ihre notwendigen Sprachkenntnisse nachweisen, um Zugang zu Ausbildung und Arbeit zu erhalten, damit erfüllen sie auch eine wichtige Voraussetzung für die Einbürgerung.

  • Im Januar 2023 beginnen die ersten B 2-Kurse. Ihr Abschluss qualifiziert Zuwander*innen für höhere Jobs und fürs Studium.

  • Der 8. Integrationskurs fängt ebenfalls im Januar 2023 an. Die Wartelisten der Sprachwilligen aus dem Ausland wachsen täglich weiter.


Am Standort Potsdam sind wir im bbw seit Beginn des Zustroms ukrainischer Flüchtlinge

ein wachsendes und inzwischen eingespieltes Team:


in der Leitung und Verwaltung mit

Nina Hultgren und Madelyn Thormann

und

mit dem multikulturellen Kreis unserer sechs deutschsprachigen Dozent*innen:

Tatjana und Elena mit russischen Wurzeln

Karim und Aimed aus Ägypten bzw. Algerien

Barbara und Hilda als Muttersprachlerinnen


*****

bbw Akademie für Betriebswirtschaftliche Weiterbildung GmbH

Schlaatzweg 1

14473 Potsdam

0331/20018-17




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