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Rolf Münzner: "Was sollte man machen, an Kritischem, in jener Zeit?!"

Aktualisiert: 28. Okt. 2021

Künstlergespräch zur Ausstellung "Druckgrafik aus fünf Jahrzehnten" in der Stadtgalerie KUNST-GESCHOSS in Werder

Zur Midissage der Münzner-Ausstellung am 16. Oktober 2021 hat Kurator Frank W. Weber zu einem Künstlergespräch ins Werderaner KUNST-GESCHOSS geladen. Rolf Münzer war zur Vernissage am 29. September auf Reisen. Jetzt ist er präsent. Der Kurator stellt den Galerie-besuchern seinen Gast vor: "Begrüßen Sie ein immatierielles Weltkulturerbe - Professor Rolf Münzner! Seit 2018 gehört nämlich die Lithografie als klassische Drucktechnik zum Welt-kulturerbe. Und Rolf Münzner beherrscht sie wie kein anderer. Sie dürfen ruhig klatschen." Das Publikum macht mit. Und genießt ein Künstlergespräch in lockerer und entspannter Atmosphäre.

Rolf Münzners Ausstellung im KUNST-GESCHOSS. Foto: Frank W. Weber

"Sie haben es ja nie in den Palast der Republik geschafft!" Der Kurator spielt seine unterhalt-same Bandbreite weiter aus. Mit humorigem Unterton wendet er sich an den Künstler. "Ihre kleinformatigen Drucke, die waren ja nicht monu-mental genug für den Palast."


"Im Palast der Republik hingen mehrere großformatige Bilder staatstragender Künstler, da war für die kleinformatigen Grafiker kein Platz", erklärt mir Frank W. Weber später.

Und auch, auf welchem Sofa er und Rolf Münzner zum Galeriegespräch Platz genommen haben:


"Es sind zwei Sitzelemente aus dem Palast der Republik, einem Bauwerk, welches dem Humboldt-Forum und Stadtschlossrevival zum Opfer fiel, einem Haus, welches dem Volk gewidmet war. Die Sitzelemente hat unser Möbelhausbesitzer Herr Döppner vom Möbelhaus C.H.R.I.S.T. ersteigert und der Galerie zur Verfügung gestellt."


Und aus dem Depot der Stadtgalerie werden sie für besondere Anlässe wie zu diesem Künstler-

gespräch wieder zum Vorschein gebracht.



"Zu den Großartigen der Schwarzen Kunst in unserem Lande zählt Rolf Münzner nicht von ungefähr." Von der Vernissage klingt mir noch dieses Kurator-Lob im Ohr. Schwarz ist Münzners Kunst verfahrenstechnisch, jenseits aller Magie, weil "der Lithostein komplett mit Schwarz eingefärbt wird und aus dem Dunklen die hellen Strukturen herausgeschabt und ziseliert werden", erklärt der Kurator. Münzners "innerer Zeichentrieb fiel glücklicherweise immer auf fruchtbaren Boden - ein Lebenswerk, an welchem die Kunst der damaligen DDR nicht ganz unschuldig ist."

Hierüber plaudert Rolf Münzner im Galeriegespräch:


"Mit 20 kam ich an eine Schule, wo gezeichnet wurde. Buchillustrator wollte ich werden. In der nachstalinistischen Zeit wurden Drucktechniken wie Radierung und Lithografie bekannt. Da hab ich entsprechende Kurse besucht und gemerkt, mit diesen Techniken kann ich mich als Zeichner noch mehr ausleben. Wie durch ein Wunder bin ich also zu diesen wunderbaren Techniken gekommen. Denn ursprünglich hab' ich ja Maschinenbau gelernt, da musste ich technische Zeichnungen machen. An großem Zeichenbrett, am Architektentisch. Nicht so mit digitaler Software und am Computer wie heute. Und dieses Lineament hat mich so fasziniert." Seine frühe Begeisterung für das zeichnerische Handwerk hat sich der heute fast 80-Jährige ungeschmälert erhalten.

Münzner, "Die alte Singer", 1981

Als Maschinenbaulehrling hat er technische Zeichnungen als schöpferische Werke schätzen gelernt "und begriffen, was eine technische Zeichnung sein kann: Kunst," gerät Münzner ins Schwärmen, "Kunst zum Bauen." Seine Lithografie "Die alte Singer" zeugt von solcher Wertschätzung für Maschinenbauten. "Dann bin ich zum Studium nach Leipzig gegangen", fährt er fort, "an die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Leipzig war die Stadt der Grafik, Buchdruckgestaltung und Fotografie, Dresden die Stadt der Malerei."


Mit Kunstausstellungen in Dresden ab Mitte der 1970er-Jahre, seiner Honorartätigkeit an der HGB - seine Professur ab 1992 fiel schon in gesamt-deutsche Zeiten -, Darstellungen in Kunstmaga-zinen und nationalen wie internationalen Auszeichnungen ab den 1980er-Jahren gehörte Rolf Münzner durchaus fest zur etablierten und politisch genehmen Kunstszene der DDR.

"Hatten Sie vor 1989 auch Probleme mit den Kunstwächtern?", fragt Kurator Weber. "Die 1. Buchauflage Anfang der 1970er-Jahre von Michail Bulgakows (1891-1940) satirischem Roman 'Der Meister und Margarita' wurde zensiert, in der Sowjetunion wie in der DDR." Textpassagen wurden herausgestrichen, die in der 2. Auflage Mitte der 1970er-Jahre wieder erschienen. Wie ging es Münzner mit seiner Lithografie zu Bulgakows Roman?

Münzner, "Der große Walzer" (1975) zu M. Bulgakow, "Der Meister und Margarita"





"Die Drucke wurden verramscht", informiert Münzner das Publikum, also unter Wert verkauft. Unabhängig von seinem Ansehen, das ein Künstler und sein Werk genoss, wurde seine Kunst nicht nach Marktwert, sondern nach Listenpreis veräußert. "Grafiken waren in der DDR - wie auch im Westen - Handelsware für Sammler. Meine Blätter wurden in Rollen gesteckt und in den Westen geschickt."


"Nahmen denn die staatlichen Organe Einfluss auf die Inhalte Ihrer Werke?", will Frank W. Weber wissen. "Nein. Es gab schon mal Anrufe, zum Beispiel zu meinen 12 Blättern zu Alexander Block", einem Dichter der russischen Moderne (1880-1921). "Man wollte wissen: 'Wer ist Christus? Der mit der Fahne?' 'Das bleibt ganz Ihnen überlassen', sagte ich." Die Deutungshoheit in der Kunst liegt beim Betrachter, übertrage ich aus der Literaturrezeption. Eine politisch geschickte Parade des Künstlers!


"Ein anderes Mal hatte ich 35 Zeichnungen zu Gorkis Erzählungen dem Staat zur Verfügung gestellt. Sie sollten auf die Reise durch die UDSSR gehen. Sie kamen nie zurück. Bestimmt sind sie irgendwo in Sibirien auf'm Klo gelandet", amüsiert sich Münzner im Rückblick. Das Publikum mit ihm.

"Was sollte man machen, an Kritischem, in jener Zeit?!" Die rhetorische Frage des Künstlers trifft auf stille Zustim-mung bei den Galeriegästen, viele von ihnen aus Münz-ners Generation und Sozialisierungszusammenhang im Osten.

George Grosz, Hunger (1924) (c) VG Bild-Kunst Bonn

Der Karikaturist George Grosz (1893-1959) hatte es Münzner angetan.


Für meine Blog-Leser recherchiere ich aus dem Ex-pressionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts:


Grosz' bissige Kritik an Militarismus, konservativem Bürgertum und Verelendung in der Weimarer Republik wie an jeder Form von Diktatur spiegelte sich in seinen Gemälden und Zeichnungen der 1920er-Jahre. Konflikte mit der Obrigkeit führten zu Geldstrafen, zur Vernichtung einiger Grafikmappen, zum Ausschluss des Malers aus der Kommunistischen Partei. 1933, gerade noch rechtzeitig vor der Machtübernahme durch Hitler, setze sich Grosz in die USA ab.


Mir wird klar: Diesen Mut zur ungefilterten Kritik am Staat hatte Münzner nicht, konnte er nicht haben in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er aufwuchs und künstlerisch eingebunden war. In seinen schaffenstüchtigen Jahren zu DDR-Zeiten folgte seine Kritik, so scheint es mir, einem gesunden Pragmatismus: sich künstlerisch auszuleben und im realen Leben zu bestehen. In seinem 9. Lebensjahrzehnt, das am 2. Januar 2022 beginnt, will Münzner sich mit Karl Kraus beschäftigen, "dem einzigartigen Satiriker zwischen den Weltkriegen", wie er mit Vorfreude verkündet.


Münzners 'innere' Emigration führte ihn zur Literatur. "Das Leseerlebnis war für mich immer größer als das reale Erlebnis in der Gesellschaft," bekennt er im Galeriegespräch. Einer seiner Ausbilder in Leipzig sei "ein begnadeter Leser russischer Literatur" gewesen, hier habe er sich frühe Inspiration für seine Bildmotive geholt. Aber weit davon entfernt, so schätze ich seine künstlerische Einstellung ein, die Flucht in eine ästhetische Scheinwelt anzutreten, wie andere, opportunistische Künstler, die sich in Unterdrückungssystemen dem Eskapismus verschreiben, findet Münzner seinen eigenen Weg, Kritik an gesellschaftlichen Missständen subtil in seine Steintafeln einzuritzen.


"Wenn Malerei literarisch wird, fängt man oft an, die Nase zu rümpfen," gibt Frank W. Weber zu bedenken. "Aber - die Lithografie ist die richtige Technik, um erzählerisch zu werden." Zumal in den beschickten Händen eines Künstlers wie Rolf Münzner.


Und recht hat er! Als Literaturwissenschaftlerin, praktisch von der anderen Seite, versuche ich Bildzeichen in Münzners Grafiken zu ertasten und zu lesen und so die Sprachfähigkeit seiner Lithografien zu entdecken.

Münzner, "Für Majakowski", 1979

"Stalin hat Schriftsteller wie Wladimir Majakowski (1893-1930) an der Leine gehalten", stellt Rolf Münzner ebenso lakonisch wie bedauernd fest.


Später, nach dem Künstlergespräch, finde ich diesen Druck an den Aus-stellungswänden. Und fange an, die Bildzeichen zu lesen.

Und dies ist meine Lesart der Lithografie "Für Majakowski". Ich finde über eine sachliche Beschrei-bung der Bildelemente zu deren Deutung und bette diese in den Entstehungskontext der Lithografie ein. Leser meines Blogs mögen und dürfen anderer Meinung sein. Wie gesagt - die Deutung von Zeichen liegt im Auge des Betrachters, trotz ähnlicher Wahrnehmung auf der Ebene der Beschreibung, die intersubjektiv für viele vergleichbar ist.


Ich fange an mit der Beschreibung: In der Lithografie "Für Majakowski" betritt der Betrach-ter über eine Treppe im Bildhintergrund ein Untergeschoss, wie unter einer Theaterbühne gelegen, auf deren Spielfläche man praktisch von unten schaut. In der Mitte dieses Unter-baus ein körperloser Kopf aus Stein, eiförmig, mit Schnurbart und einer Brillenfassung aus Draht ohne Gläser. "Egghead" geht mir durch den Kopf, die englische Bezeichnung für einen Intellektuellen. Was tut der hier? In der Bildkomposition trennt er eine linke Personen-gruppe von einer rechten. Links posieren drei Köpfe aus der feinen Gesellschaft, gekleidet offenbar im Stil der 1920er-Jahre. Zuoberst eine Dame mit breitkrempigem Hut, den sie schräg ins geschminkte Gesicht gezogen hat, den Oberkörper in ein schulterfreies, enganliegendes Kleid über angedeutetem nackten Busen gehüllt. Unter ihr ein Herr in klassischem weißen Hemd mit hohem Kragen, akkurat pomadierter Frisur und rauchender Zigarette im Mund. Beide schauen den Betrachter mit festem Blick an. Der mittlere Kopf in dieser Gruppe hat sich dagegen mit aufgerissenen Augen und offenem Mund ungläubig den Personen gegenüber, auf der rechten Bildseite zugewandt - allesamt Elendsfiguren. Einer flüchtet 'kopflos', wie in triebhafter Manier weg von der feinen Gesellschaft links im Bild. Ein Tierkopf sitzt entsprechend auf seinem Körper ohne Beinbekleidung und einer Art Fell auf dem Torso. Eine andere männliche Figur mit Oberlippenbart und randloser Intellektuellenbrille liegt wie erschlagen in einem nach hinten gekippten Sessel, vor einem aufgelösten Bucherstapel. Von weiteren leblos wirkenden Figuren sieht man nur Körperteile - Kopf oder Arm.


Ich wage eine erste Deutung: Dreh- und Angelpunkt in diesem Bild ist der "Eierkopf" im Zentrum. Während oben auf der Bühne offenbar ein Schauspiel zur kulturellen Unterhaltung läuft, verweist der Gelehrte auf den Bodensatz der Gesellschaft, auf das, was sich unter dem schönen Schein verbirgt: auf die Gespaltenheit der Gesellschaft in eine gutsituierte Oberschicht mit politischen Funktionsträgern, Wirtschaftsmagnaten und Damen der feinen Kreise und weniger privilegierte Volksgruppen, die in materiell elenden Verhältnissen leben oder als Systemgegner mundtot gemacht und beiseite geschafft werden. Dass die führenden Gesellschaftsschichten die Verelendung weiter Kreise der Gesellschaft durch Hunger, Arbeits- und Obdachlosigkeit sowie Gewalt und Kriminalität aus ihrem Gesichtsfeld verbannen, erkennt man an der Gesellschaftsdame. Sie hält an einem langen Stab in ihren Händen eine Maske, mit der sie eine Elendsfigur gesichtslos macht, die in ihre elitären Kreise eingedrungen ist.


Ich bette das Kunstwerk in seinen doppelten historischen Kontext ein: Der Lithograf zeichnet "Für Majakowski" ein Gesellschaftsbild zu dessen Lebenszeiten, das stark an Stalins Vorstellung von einer modernen Gesellschaft nach der russischen Revolution von 1917 erinnert, in der alle, die nicht dem Ideal des neuen Menschen entsprachen, als Klassen-feinde liquidiert wurden, während systemkonformen Bürgern ein Leben in Wohlstand winkte. Majakowski hat Stalins Säuberungsaktionen auf dem Höhepunkt 1937/38 nicht mehr erlebt, Münzner jedoch hat sie rezipiert und in seiner Lithografie festgehalten. Äußerlich eine Art bebilderte Widmung für den Schriftsteller aus dem sowjetischen Bruderland, unangreifbar nach außen, doch bei näherem Hinsehen eine Grafik mit einem gesellschaftskritischen Erzählkern. Als Künstler der nonverbalen Zeichen gelingt es Münzner, einen sozialkritischen Ansatz aus Majakowskis Werk in eine Bildsymbolik zu übersetzen, die vor den prüfenden Augen der "Kunstwächter", wie Weber sie nennt, bestehen kann, keine direkte Anspielung auf zeitaktuelle politische Verhältnisse in der DDR offenbart. Auf diese Weise hat Münzner hier geschickt auf ein historisches Russland projiziert, was er selbst im sozialistischen Deutschland der 1970er-Jahre an gesellschaftlicher Spaltung beobachtet hat.


Diese Projektion von gesellschaftlicher Kritik in eine andere Zeit und in einen anderen Kulturraum lässt sich auch in einer Reihe anderer Grafiken Münzners als seine künstlerische Handschrift wiedererkennen. Etwa in seiner Druckserie zu "Ackermann und der Tod", dem spätmittelalterlichen Werk, das die Allmacht Gottes hinterfragt, oder zu Heinrich Heines Gedicht "Anno 1829", das die satte Zufriedenheit der Bürger im Biedermeier angreift.


Aufbruchstimmung. Zwei weitere Grafiken im Ausstellungsraum gewinnen meine besondere Aufmerksamkeit: "Balance-Schritt" (1987) und "Also das geht" (1989). Die friedliche Abkehr der DDR-Bürger vom Sozialismus und ihre mutige Hinwendung zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft scheint Münzner mit diesen Grafiken künstlerisch verschlüsselt begleitet zu haben. Auch in dieser Bildauswahl aus den späten 1980er-Jahren lässt der Künstler seinen Betrachtern viel Luft, um sich selbst ein Bild zu machen. Ich gönne mir dieses "Luft". Gegenstand des Galeriegesprächs waren diese Lithografien nicht.


Titel: "Balance-Schritt", 1987

Titel: "Also das geht" Zu Liedern der Französischen Revolution, 1989

Meine Deutungshypothese: Weg in den Zusammenbruch des sozialistischen und Aufbruch in einen demokratischen Staat?

Meine Deutungshypothese: Freude über das Wagnis des neuen Weges mit gestärktem Gemeinschaftsgefühl?

Meine Beschreibung: Aus der Enge eines geschlossenen Glaswürfels sind Figuren mit den Beinen zuerst durch die gläserne Trennscheibe in die Freiheit eines offenen Raumes ausgebrochen, den Körper stark nach vorn gebeugt und die Hände schützend um den Kopf gelegt, mit fast embryonaler Scheuheit im neuen, offenen Raum angekommen, das Stehvermögen auf unebenem Boden noch unsicher, der Blick gesenkt, die Zukunft noch ungewiss. Der neue Lebensraum war zuvor durch die gläserne Barriere sichtbar, auch erstrebenswert, aber unerreichbar ohne den mutigen, durchaus auch schmerzhaften Schritt des Ausbruchs.

Meine Beschreibung: Aus der Schräglage eines Holzkarrens mit industriell gefertigten Vorderrädern rutschen Figuren mit durcheinandergewirbelten Gliedmaßen und fröhlich singenden Gesichtern nach vorn, wie ausgelassen spielende Kinder von einer Rutsche. Die Karre mit einer Ladung Menschen, ein Lastenfahrzeug, wie man es von Flüchtlingswanderungen in Kriegs-zeiten kennt, erhält durch den Optimismus des Bildtitels, "Also das geht", eine Aufwertung: eine gelungene schnelle Beförderung von Bürgern auf eine neue Gesellschaftsebene.

Meine Deutung und Einbettung in den historischen Kontext: Friedlich erkämpfte Freizügigkeit in der äußeren Mobilität wie der inneren Haltung. Das zersplitterte Glas symbolisiert den Zusammenbruch des verlassenen (staatlichen) Lebensraums - ein unvermeidlicher Kollateralschaden, doch ohne menschliche Opfer. Eine treffende Bildanalogie zum historischen Geschehen in den späten 1980er-Jahren, eine sinnbild-liche Ahnung der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten?

Meine Deutung und Einbettung in den historischen Kontext: Der Titelzusatz, "Zu Liedern der Französischen Revolution", stellt eine Parallele wie einen Kontrast her zwischen der friedlichen Volkserhebung in der DDR von 1989, als Hunderttausende auf die Straßen gingen, und dem franzö-sischen Modell der Revolution, das 200 Jahre zuvor begann: Was 1789 in Frank-reich mit der Marseillaise als Revolutions-hymne und mit energischen Volksaktionen gegen autoritäre Herrschaftsstrukturen und für bürgerliche Freiheitsrechte begonnen hatte, führte über eine gegenrevolutionäre Schreckensherrschaft erst nach zehn Jahren zu einem Staatsgebilde mit republikani-scher Verfassung. Dagegen verzeichnet das friedliche Jahr 1989 in Deutschland einen Zugewinn an ziviler Revolutionskultur.

Nach der Wende, in einer gesamtdeutschen Gesellschaft, die die Freiheit der Künste als Grundrecht verbürgt, bleibt Münzner seinem doppelten Engagement für Literatur und Kritik im Medium der Lithografie treu. Auch ein freiheitlich-rechtlich begründetes Staatssystem kann sich nicht freisprechen von beklagenswerten Zuständen.

Münzner, "... und dann und wann ein weißer Elefant" / Rilke koloriert, 2012

Münzners Rilke-Lithografie fällt mir als Beispiel ins Auge. Im Folgenden meine Annäherung:


Aus Rainer Maria Rilkes Gedicht "Das Karussell" (1906) macht der Grafiker den Refrain "und dann und wann ein weißer Elefant" zum Titel einer seiner neueren Lithografien (2012). Im Gedicht geht es konkret um das Kreisen eines Kinder-karussells, vergegenständlicht durch den wieder-kehrenden weißen Elefanten im Refrain. Auf den Tierfiguren reitend tauchen Kinder ganz in die Phantasiewelt von Kirmes und exotischer Tierwelt ein. Auf der Bildebene symbolisiert der kreisende Elefant das ewig Gleiche, Wiederkehrende im Lauf des Lebens und entlarvt die Welt der spielerischen, glücklichen Kindheit als Illusion.


In Münzners bildhafter Umsetzung der Rilke-Zeile wird für mich diese Kritik sinnfällig:

Eine Trittleiter führt in den hohlen dunklen Bauch des weißen Elefanten. Eine Kunstfigur, kein naturalistisch nachgebautes Kirmestier. Sein geöffneter Rumpf gleicht einer Holzkiste mit Bullaugen und ungewissem Inhalt. Auf deren Rand sitzt ein Kind, das wohl über die Leiter dorthin gelangt ist. Freudlos, kraftlos ruht es da, gar nicht begeistert oder voller Bewegung, wie es Kinder üblicherweise auf dem Karussell sind. Hinter Kind und Elefant tauchen zwei erwachsene Figuren auf, Mann und Frau, Eltern möglicherweise, hager, mit starrem Blick und von steifer Gestalt, festgehalten vom engen Rahmen einer schmalen Farbfläche. Von ihren Köpfen verlaufen Stangen oder Fäden nach oben, wie bei Marionetten, diese werden gehalten von einer riesigen Kugel, wie man sie von historischen Weltausstellungen, etwa 1900 in Paris, kennt. Menschen werden bewegt, hängen mit dem äußeren Weltgeschehen zusammen - Tages- und Jahreszeiten, Lebensalter, Generationenfolge, Familiengründung, Ausbildung, Arbeit, Gesellschaft, Politik, Religion. Weder Selbstbestimmung noch Ausbruch aus diesem starren Schema scheinen möglich. Das gesellschaftliche Leben in Münzners Druck wie in Rilkes Gedicht gleicht einem "atemlos blinden Spiel", es "kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel."


Diesen vielschichtigen Bildkosmos schafft ein Mann, der von seinen frühen Lehrjahren sagt: "Ich wollte Illustrator werden, vielgelesene Bücher illustrieren. Weiter wollte ich nix!" Das war der Plan. Und was ist aus diesem bescheidenen Berufswunsch geworden!

"Der Grandseigneur der Druckkunst", so führte ihn Frank W. Weber auf der Vernissage ein. "Seine hochdiffizile Kunst der Schablithografie, die nur wenige Künstler so meisterhaft beherrschen, ist ihm dienlich. ... Wer seine Bilder als bloßes Panoptikum nimmt, kommt dem Künstler nie nahe. Sie sind Sitten- und Sinnbilder einer verzerrten, dämonischen Welt."


Reise in neue Länder und Motivwelten. Rolf Münzners wiederkehrende Motive und Dingsymbole stammen aus seiner Biografie: Kindheitserlebnisse (Karussell, Bühne, Puppentheater), Ausbildungsschwerpunkte (Rad, Maschinen, technische Zeichnungen).

Münzner, "P. überfliegt Landschaft bei L.", nach Blatt aus 1983, 2003

Doch schon vor der Wende erweitert sich sein Blickfeld. "Die erste Reise 1982 in den Westen war praktisch eine Fahrt auf den Mond", sagt er mit feinem Spott. "Und der erste Gang durch Münchens Museen - Hochleistungssport! Da hab ich eine Retrospektive gesehen von Panamarenko", dem wohl bekanntesten belgischen Künstler (1940-2019) und als Ingenieur und Aeromodeller auf einer Wellenlänge mit Münzner. "Ich dachte, mich erschlägt's! Solch ein elektromechanisches Verständnis!" Panamarenkos Spezialität waren skurrile Flugmaschinen in der Art von Leonardo da Vinci. Seine monumentalen Luftfahrzeuge waren raumfüllende Konstruktionen, bewundernswert, fantasieanregend, aber nicht flugtauglich. "Auch meine Räder," lacht Münzner, "sind hart an der Realität gebaut. Ich würde niemandem raten, so zu fahren." Als Hommage an seinen geschätzten Zeitgenossen produziert Münzner 2003 nach einer 1983er-Vorlage seine Grafik "P. überfliegt Landschaft bei L."(Leipzig). Frank W. Weber betitelt: "Ein Fantast überfliegt die kleine Demokratische Republik."

Mit der Freizügigkeit nach 1989 entstehen Reisebilder aus Deutschland und Europa. Münzners Technik ist aus reisepraktischen Gründen die Radierung. Seine Formate sind auffallend einheitlich - klein. "Klar", erklärt er, "manche Formate entsprechen dem Fenster des Wohnmobils, mit dem wir durch die Welt reisten."


Anschluss an Vernissage und Midissage. Gönnen Sie sich einen Besuch im KUNST-GESCHOSS in Werder und tauchen Sie ein in die Bildwelten von insgesamt 77 Werken aus fünf kunstschaffenden Jahrzehnten des ebenso feinmotorisch wie feinsinnig begabten Grafikers Rolf Münzner.


Und gönnen Sie sich das Privileg, auf einem Polster aus dem Palast der Republik probe-sitzen zu können.







Die Münzner-Ausstellung läuft noch bis zum

7. November 2021.


Die Stadtgalerie ist donnerstags, samstags und sonntags von 13 - 18 Uhr geöffnet.







Der Kurator Frank W. Weber in eigener Sache:


"Mehrere dauerhafte Besucher unserer Galerie haben mir gesagt: 'Also, wir waren schon im Barberini und wir haben uns schon die Ausstellungen im Potsdam Museum angesehen und jetzt kommen wir auch noch ins KUNST-GESCHOSS nach Werder!' Ich finde es herrlich, wenn man von mehreren Stellen hört, dass wir auf Platz 3 rangieren. Ein Highlight!"




Der Kurator weiß sich in bester freundschaftlicher Vernetzung mit der Werderaner Bürger-meisterin Manuela Saß.

Und sie wiederum weiß seine Offenheit zu schätzen: "Wir machen hier die Kunst und andere profitieren in der Stadt: durch unseren Tourismus, den Zulauf aus dem Umfeld ..."


Zur Vernissage der Münzner-Ausstellung spendet die Bürgermeisterin Stadt-galerie und Kurator großes Lob und sichert die Unterstützung der Lokalpolitik zu:


"Umso beeindruckender ist auch wieder, lieber Frank, der Kontrast: zwischen der vergangenen Ausstellung [sie meint "Sea & Sirens", die beeindruckenden Unterwasserfotografien von Wim Westfield] und dem, was jetzt zu sehen ist - diese Vielfalt an Drucken von Rolf Münzner. Ihnen, liebe Freundinnen und Freunde des KUNST-GESCHOSSES, viel Spaß mit dieser Ausstellung und der Möglichkeit, ganz besondere Kunst, wie Frank mir erklärt hat, zu erwerben!"



Zur Midissage trägt bereits die Hälfte der Münzner-Drucke rote Verkaufspunkte!




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