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  • crystalcove15

Goethe-SchülerInnen graut's nicht vor Faust

Zum 10. Jubiläum der Goethe-GS in Babelsberg zeigt die 6. Klasse ihren Faust-Film im Thalia am 3. September 2021


"Die Jugend will lieber angeregt als unterrichtet sein",

stellt Geheimrat Johann Wolfang von Goethe 1811 in seinem Alterswerk Dichtung und Wahrheit fest. Da war er 62 Jahre alt. Ein Greis, für die damalige Lebenserwartung.


Wie modern, Meister Goethe! Allerdings geht's heute schneller mit dieser Ein-schätzung. Junge und jung gebliebene Pädagogen der Goethe Grundschule Potsdam motivierten Anfang 2020 12-jährige Teenies, sich auf den Dichter-fürsten Goethe einzulassen und für das 10-jährige Jubiläum der namensgleichen Grundschule Faust reloaded auf die Bühne zu bringen. Dann machte ein Virus dem Vorhaben einen Strich durch die kreative Rechnung. Im Lockdown kam das Medium Film ins Gespräch, technisch aufwändiger, ja, aber eben virologisch clean: Im szenischen Spiel konnten Kinder einzeln oder in Kleingruppen mit behördlich verordnetem Abstand üben: für Mimik, Körpersprache, Choreografie, Tanz, Sprechvortrag, Stimmführung und Kostümierung.


"Krisen können auch lustvoll bewältigt werden", das nimmt Schulleiterin Anja Henkes als Gewinn aus dem pandemischen Durcheinander mit. Und das Jubiläumsjahr rückte um eins weiter, auf 2021. Zur Filmpremiere sind die ehemaligen Sechstklässler längst aus der Goethe Grundschule aus- und in die umliegenden weiterführenden Schulen eingezogen.

"Die Kinder haben Unglaubliches geleistet", so spricht Anja Henkes in ihrer Begrüßungsrede am 3. September 2021 zur Filmpremiere im Thalia anerkennend von den Schülergruppen, die monatelang schauspielerisch und bildnerisch mit Proben beschäftigt waren. Dann endlich Drehzeit! "Acht Tage lang haben wir gefilmt, mit einem professionellen Drehteam, und zwar nach dem Unterricht, oft bis in die Abendstunden hinein. Und Kinder der 3. und 4. Klassen haben die Requisiten und Kopfmasken hergestellt."


Schule satt? Wie geht das, Schulkinder über ihr ohnehin dichtes Pensum an Fächern und Hausaufgaben und Nachmittagsveranstaltungen hinaus im Schulgebäude zu halten?


Die Philosophie der Schule passt, wie Chefin Anja Henkes erläutert, bevor der rote Vorhang im Thalia für den Film gelüftet wird: "Goethe war Universalgenie, interessierte sich für fast alles. Wir sind überzeugt, dass universelle Talente in jedem Menschen schlummern und leben an unserer Schule nach dem Motto: Alle sind anders, aber jeder ist besonders, kann etwas ganz besonders gut".

"Und dann kam Yvonne", schwärmt die Schulleiterin und mit ihr Stellvertreterin Katrin Heinrichs. "Sie hatte den Hut auf bei unserem Filmprojekt!"


Yvonne Sakulowski, Mutter einer Goethe-Schülerin und ausgebildet in Regie und Bildhauerei, erst als Seiteneinsteigerin zur Pädagogik gekommen, seit kurzem Vollzeit-Profi an der Goethe-Schule mit den Fächern Deutsch und Kunst, lobt Schulrätin Bettina Böttcher.


Und: Ein Multitalent, Regisseurin Yvonne, mit viel Liebe und Geduld für Kinder und ebenso viel festem Willen, gemeinschaft-lich gesetzte Ziele im Team auch zu erreichen. "Wer schafft es schon, Kinder dazu zu bringen, eine Szene auch zum 30. Mal zu wiederholen?!" Anja Henkes überlässt den lachenden Kinogästen die Antwort.


Fleiß und Durchhaltevermögen, das hat die Regieleiterin in ihrer Gruppe wach-gerufen. Aber noch mehr. Dass 12-Jährige mit der Überzeugung junger Erwachsener Verse aus Goethes Tragödie vorsprechen (beileibe kein Schülerjargon!) und schauspielerisch mit Leben füllen können - dahinter steckt mehr als Sprecherziehung, die es in der AG zu Genüge gab. "Das Darstellende Spiel hat unsere Sechstklässler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weitergebacht", ist Anja Henkes überzeugt. "Wir haben es als Team geschafft, sie für einen anspruchsvollen literarischen Text zu begeistern."


Selbst Paul, der im Film Gretchens jüngeren Bruder spielt und bei ihrem ersten Date auf sie aufpassen möchte, wächst buchstäblich über sich selbst hinaus - erst im Film, dann in der Schule, hat Anja Henkes festgestellt -, wenn ihm seine schwangere Filmschwester Gretchen ihr Unglück schildert und er im Zweikampf dem untreuen Lover harte Schläge und gezielte Tritte in Weichteile versetzt. Zuvor faucht er entrüstet, ganz und gar nicht in Kindermanier: "Es kann nicht sein, es kann wirklich nicht sein! Dieser Kerl ist so abscheulich gemein!"


Was ist denn so anspruchsvoll in Goethes Faust, Teil I? Goethes Meisterwerk, an dem er sein halbes Leben lang schrieb (1752-1808), ist der Liebling der literaturwissenschaftlichen Forschung weltweit und ein Kassenerfolg auf Theater-bühnen. Es ist ein Drama, mit Szenen und Dialogen, auch Monologen, liest sich nicht so nebenher wie eine Geschichten oder ein Jugendbuch. Und ist nicht so leicht verdaulich wie schnelle E-Kommunikation. Die Sprache ist gehoben, weit weg von der Alltags- und Gebrauchssprache, dazu noch in Versen geschrieben, mit und ohne Reim. Faust spricht komplex, Gretchen schlichter, Mephisto übertrifft sich selbst in Witz und Wortspielen. Ihr Sprachgebrauch klingt für uns heute fremd. Umso mehr für Jugendliche der Klasse 6. Auch die Thematik, was sich im Leben eher durchsetzt, Gut oder Böse, gehört nicht unbedingt auf die Chatliste von 12-Jährigen.


Worum geht's im Faust? Salopp gesagt, für jüngere LeserInnen, ist dies die Story:


Dr. Heinrich Faust, ein Gelehrter schon in fortgeschrittenem Alter, mit Topjob an der Uni in "Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Virologie", frustriert über seine Forschungsarbeit, fragt nach dem Sinn seines Lebens, fällt in eine midlife crisis und will's noch mal wissen, geht einen Pakt mit dem Teufel ein, verschreibt sich der Magie und Hexenkunst, wandelt sich zum jugendlichen Draufgänger und begibt sich auf eine hemmungslose Reise durch das Reich der Genüsse: Trink- und Essgelage, Drogen-Cocktails, Tanznächte, Liebschaften, Sex. Und dann: Schwangerschaft. Gretchen, gerade mal 14 Jahre und mit Null-Ahnung von Verhütung, wird von Heinrichs verführt und erwartet ein Kind, er lässt sie sitzen, sie gilt in der Gesellschaft ihrer Zeit als gefallenes Mädchen, sie bringt das Baby um, das Gericht verurteilt und bestraft die Kindesmörderin, sie wird in den Kerker geworfen, erkennt und bereut ihre unmenschliche Tat und wimmelt Heinrichs erneute Annäherungsversuche ab. Zwei Menschen mit gegensätzlichen Lifestyles! "Heinrich! Mir graut's vor dir!" - das ist Gretchens vielzitierter Schlussvers im Goethe-Text wie im Film.


Schwerer Tobak, diese hochgelobte Werk der deutschen Literatur, eigentlich was fürs Gymnasium und da eher Stoff für die Oberstufe. Nix für Teenies in einer Klasse 6. Meint man. Ganz anders die Klasse 6 des Goethe-Grundschule!


Und das geht, Begeisterung für Faust in Teenagern wecken? An der Goethe-Grundschule schon! Einzelne Szenen werden von Yvonne Sakulowski ausgesucht, stark gekürzt, auf wenige Verse nur, meist im O-Ton Goethes übernommen oder in seinem Stil nachgedichtet. Vor allem spricht sie die Vorstellungskraft der Kinder an:

  • "Was glaubt ihr, wie geht's so einem Wissenschaftler, der nur über seinen Büchern sitzt, Überstunden macht und nicht rauskommt?"

  • "Der will's noch mal krachen lassen!" "Der braucht 'nen Kick!"


  • "Also, Mephisto macht einen Deal mit Faust. Wie könnte so ein Deal aussehen?"

  • "Na ja, an die Ostsee fahren?" "Auf den Mond fliegen?" "Party machen?"


Nach solchen Aufwärmphasen ist Auerbachs Keller schon fast eine vertraute Party location für die Mädchen (mehrheitlich) und Jungen der Klasse 6.

Auerbachs Keller, Hexenküche und Walpurgisnacht werden inszeniert im ausgelassenen freestyle dancing der Jugendlichen. Der ist ihnen vertraut. Hier setzt die Arbeit von Anja Henkes und Katrin Heinrichs an, beide Musik-pädagoginnen. Und immer wieder die Ermunterung der Lehrerinnen: "Spiele, bewege dich so, wie du dich in dieser Szene fühlst." Ob als Partygast oder böser Geist oder als Junge, der ein Mädchen anspricht, oder als Mädchen, das sich zum ersten Mal mit einem Jungen verabredet.


Goethes Faust "heruntergebrochen", resümiert Anja Henkes mir gegenüber. Im kind-gemäßen literarischen Gespräch mit jedem einzelnen jugendlichen Schauspieler weckt Yvonne Sakulowski Verständnis und Einfühlungsvermögen für die jeweilige Rolle. Immer geht es den Lehrerinnen in erster Linie darum, wie jugendliche LeserInnen diesen mehr als 200 Jahre alten, sperrigen Text heute verstehen und auf ihr Leben beziehen können.


Das gelingt nicht immer auf Anhieb. "Wir hatten mit unserem Projekt viel, viel Arbeit", erinnert sich die Schulleiterin. "Aber auch ebenso viel Spaß. So viel gab es noch nie zu lachen." Die Probenfotos zeigen es, zum Beispiel vom ersten Date zwischen Faust und Gretchen im Garten (Fotos 1-2):

Aufgehübscht nähern sich Milena als Gretchen und Niklas als Faust, beide verlegen und zurückhaltend. Nur einen einzigen Satz soll Faust laut Drehbuch sagen: "Ein Blick von dir ...". Doch der junge Faust-Mime stockt, dreht ab: "Fuck" zischt er im Off und krümmt sich vor Lachen. Alle anderen stimmen ein.

Und dann landet diese Liebesszene doch noch im Kasten (Fotos 2-5): "Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält als alle Weisheit dieser Welt", so sagt Niklas-Faust überzeugt zu seiner Flamme. Der Funke springt über, statt langer Vers-drechselei wie im Dichter-Original deutet die Körpersprache der beiden scheuen Frischverliebten alles (in diesem jungen Alter) Unaussprechliche an. Beide Jungschauspieler schreiten langsam in ihren beweglichen Türrahmen aufeinander zu, verharren darin, ihre Hände finden zueinander in symbolischer Nähe. Dramaturgisch wie filmtechnisch wunderbar gelöst! Und "anständig mit Abstand" - das geht aufs Konto von Corona während der Dreharbeiten!

Das Gesamtpaket "Filmproduktion" Yvonne Sakulowski bringt ihr Netzwerk fürs Schulprojekt Faust mit: Rolf Saku-lowski ist erklärter Ehe- und Kamera-mann, begabter Zeichner, Drehbuch- und Krimiautor und mit einem (wie es scheint) dehnbaren Vorrat an freier Familienzeit ausgestattet. Er entwirft die Szenenbilder für den Faust-Film, das erspart echte Räume, Kulissen und Requisiten. Und sieht brillant schön aus!


"Film ab!" Kurz vor 18 Uhr am 3. September 2021 freut sich das Publikum - Schauspieler, Lehrerschaft, FilmCrew, Eltern und andere geladene Gäste - auf eine Vorführung der besonderen Art, ganz in der Tradition des Filmkunsttheaters Thalia im Kiez Babelsberg. David Grimaud in seiner filmischen Doppelrolle als Dichter-Theaterdirektor (hinter den Kulissen auch für Schnitt, Musik und Animation zuständig) stimmt das Publikum ein:

"Jetzt geht's ans Eingemachte!


Gut oder Böse? ...

Es geht um Gott oder Teufel. Mal gewinnt Gott, mal der Teufel, das ist der Gang der Welt, seit Tausenden von Jahren ist das so.


Das Spiel beginnt!"




Wir Zuschauer

"schreiten in dem engen Bretterhaus (Thalia ;-)

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus

Und wandeln mit bedächt'ger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle."


(aus dem "Vorspiel auf dem Theater" in Faust I )







Der Showmaster kündigt an:

"Ja, ich muss zugeben, vielleicht ist mir das Ende ein wenig zu traurig geraten. Aber - nichts bleibt, wie es ist. Ich habe nämlich einen 2. Teil geschrieben und in dem kommen Faust und Gretchen doch noch zusammen. Aber wie es dazu kommt, das wird ein Geheimnis bleiben."

Oder nicht?!


Auf der After-Show-Party verkündet Schulleiterin Anja Henkes freudig: "Faust II - das wird unser nächsten Projekt!" Allerdings als reines Erwachsenen-Vergnü-gen mit dem Kollegium der Schule als Stars. Ob sie den grandiosen Schüler-Film Faust I toppen können? Und ob die Sponsoren, denen herzlichst gedankt wird, so bald ihre Reserven auffüllen können?

Es bleibt dramatisch an der Goethe Grundschule!

Die beiden "Mädchen für alles" (so im Abspann des Films zu lesen), Anja Henkes und Katrin Heinrichs, verteilen an jeden Darsteller und die FilmCrew CDs und Knabberzeug. Die Gäste nehmen den Film auf USB-Sticks mit, den Obolus schluckt die Schildkröte in ihrem Panzer durch einen One-way-Schlitz. Investition ins nächste Projekt! Der Abend geht mit entspanntem Geplauder weiter und mit einem verdienten kühlen Schluck zu Ende.

Ein großartiges Spektakel auf der Filmbühne des Thalia!

Hut ab, Yvonne & Crew!

Fortsetzung folgt!!


Noch ein Dankeschön: an Vera Öztürk, Fotografin und Freundin der Goethe Grundschule, für ihre Fotos von der Filmpremiere und für die Outtakes von den Proben, die ich in meinem Blog verwenden durfte. Für die Screenshots vom Film habe ich die freundliche Bildrecht-Erlaubnis von Anja Henkes.



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