Das Duo der Fercher Obstkistenbühne singt und spielt im "Konzert am Kamin" zum 1. Advent
Munteres Geplauder an den adventlich gedeckten Tischen im warmen Lampenlicht. 22 Menschen - Einzelne, Paare, Gruppen - scharen sich ab 15 Uhr um Sachtertorte und Kaffeekanne, das Mittagessen zuvor wohlweislich ausgespart. Gedämpfte sonore Stimmen der Altersgruppe 70+ mit ein paar jüngeren Gesichtern, herbeigeeilt aus Potsdam, Berlin, Rathenow, Hannover und Geltow, allesamt den Blick erwartungsvoll auf die Holzbühne gerichtet.
Licht aus - Spot an!
Punkt 15.30 Uhr. Der Zuschauerraum ins Halbdunkel gehüllt. Die Bühne erstrahlt vom Scheinwerferlicht und den blitzenden Augen des Künstlerpaars Ingrid und Wolfgang Protze. "Geboren Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts" und "als Großmutter noch zu jung", wie Ingrid Protze in ihrem Schwielowsee-Tage-Buch(t) (2005) vor Zeiten schon bekennt.
Und in diesem sonderbaren Cocktail aus junggebliebenem Geist und historischer Gewandung erleben wir einen Kulturgenuss der ungewöhnlichen Art - zum 1. Advent 2022, im 30. Jubiläumsjahr der Fercher Obstkistenbühne.
Gleich mit dem Auftaktsong werden wir mit "Feuerglutgeflimmer" eingestimmt auf die knisternde Wärmequelle im Feldsteinkamin und auf die historische Lokalität des Hauses. Wir sitzen im langjährigen Wohnsitz der Familie Protze nämlich im ehemaligen Viehstall des alten Bauernhauses, Herberge für Huhn und Ziege, Pferd und Ferkel, unter "preußischer Kappe", einer landestypischen Deckengestaltung, die schwergewichtige Wohnobergeschosse statisch abfedern kann. Zum "Wintergarten" umgestylt und umbenannt, gastiert in diesem dörflichen Musentempel in Ferch das Künstler-Duo zur Herbst- und Winterzeit.
"In langen dunklen Winternächten sieht man gerne mal ein Licht",
lässt der Sänger verlauten. Man stelle ein Licht ins Fenster, denn "die guten Geister finden dich sonst nicht."
In diesen Zauber der kosmischen Geborgenheit "bricht" jäh mit Fontanes prosaischer Härte "der Winter ein", der Winter des Jahres wie des Lebens. Im Fontane-Gedicht "O trübe diese Tage nicht" "geizt" der Mensch im späten Lebensabschnitt mit seiner Zeit:
Die Flut des Lebens ist dahin,
Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,
Und sieh, es schleicht in unsern Sinn
Ein banger, nie gekannter Geiz.
"Ein banger, nie gekannter Geiz" schwappt mit des Rezitators süffisantem Unterton gewollt (?) über in unsere tagesaktuelle Diskussion geopolitisch bedingter Energiesparsamkeit. Zurück auf dem platten Boden der gesellschaftlichen Wirklichkeit!
Nicht lange. Frohe Illusionsbilder gaukelt uns das Duo im nächsten Song vor Augen: "Eine Rose ragt übern Herbst hin zum Winter". Ja, stimmt. Auf dem Kaminsims erspähen wir eine späte Blüte. Später im heimischen Garten auch. Lyrische Bilder erhellen den Blick, lassen uns mehr sehen, mehr verstehen.
Stimmungsvoll geht es weiter. Zunächst.
"Wenn die weißen Nebel wallen"
übern See, "kannst du wie auf Wolken gehen".
Solche Saisonbilder à la Fontane haben wir aus der spätherbstlichen Havelländischen Seenlandschaft lebhaft vor Augen.
"It's like walking on the clouds", hängt das Duo den Refrain dann noch in englischer Sprache an. Werbung in eigener Sache:
"Sie hören, wir sind auch im englischsprachigen Ausland mit unserem Programm unterwegs. Und waren auch schon zweimal über den Teich in den USA", gibt Ingrid Protze bekannt. Und ihr Gemahl fügt zu aller Belustigung forsch hinzu: "Und ein bisschen angeben wollten wir auch!"
"Als der Winter die Erde bedeckte"
Zurück in Ferch. Anno dazumal. In den Jahren der Großelterngeneration, von der Ingrid Protze eine Geschichte erzählt. Die dörfliche Mehrgenerationenfamilie rüstet zum Heiligen Abend und zu den Weihnachtstagen: Großvater mit Pferd und Wagen um den See - Materialbeschaffung, alsbald liegen in seiner "Scheune Schätze bereit". Großmutter mit hoheitlichen Aufgaben in Küche und Wohnraum beim Baumschmücken, Alter, Erfahrung und strenges Reglement als Kernkompetenzen im Haushalt. Die Kinder gespannt wie die Flitzebogen, aber abgelenkt mit Schneeschieben und dann hocherleichtert und beglückt bei der Weihnachtsbescherung - nach prüfenden Gehorsams-Fragen des Weihnachtsmannes. "Kling, Glöckchen, klingelingeling" ertönt es als Gesangs-Intermezzo von Lead Singer und Zuschauern - die eingespielte Fercher audience participation ohne Absprache, ohne Probenabend. Klappt immer! Alle Gäste sind ganz Ohr, wenn ihre eigene Kindheitsgeschichte in ihrem internen biografischen Speicher reloaded wird. Seliges Wiedererkennen auf den reifen Gesichtern, wie einst mit glänzenden Kinderaugen. Ein verirrtes Handyklingeln im Zuschauerraum geht dezent unter im klangvollen Zusammenspiel des Musiker-Sänger-"Enkel"-Paars.
"Nun aber komm, nun lass uns plaudern / Vom eigenen Herd, von Hof und Haus!"
So verlockend klingt in Fontanes "Winterabend" von 1895 die Werbung des heimlichen, aber durchaus interessierten Liebhabers, der sich aus dem unwirtlichen "Schneegeflimmer" draußen in die warme Stube und sinnliche Nähe seiner Liebsten flüchtet. "Wie hätte Theodor Fontane gedichtet, wenn er einen Computer gehabt hätte?", fragt Wolfgang Protze nach seinem einfühlsamen lyrischen Vortrag unvermittelt ins erstaunte Publikum hinein. Und lässt sodann seinen IT-Visionen freien Lauf. Fontane-Lyrik parodiert, im Jargon der digitalen Kommunikation gut 125 Jahre später. Davon hier nur eine winzige appetitmachende Kostprobe: "Sei Internet zu mir!" Das ist köstlich! Hat in weiteren Zeilen auch erotische Untertöne im unterkühlten IT-Jargon der heutigen Parship- und Tinder-Generation. Eine einfallsreiche Parodie auf den Altmeister der gedrechselten Worte, auf den Mark-Brandenburg-Versteher Theodor Fontane. Wer mehr Erheiterndes selbst live erleben möchte: Die Termine der Fercher Obstkistenbühne für November 2023 sind schon publik.
Keine Show der Fercher Obstkistenbühne ohne Publikumsbeteiligung!
Im Sommer mit rhythmischem Holzpantinen-Geklapper der Mitmach-Zuschauer draußen im 200 Jahre alten Obstbauernhof. Ab Herbst in der warmen Winterstube mit Wolfgang Protze als Zeremonienmeister und zwei historischen Schneeschiebern in seinen Händen als Texthilfe für den Zuschauerchor: "Heide" und "Marie" steht da auf den Schaufeln, die Namen werden einzeln oder zusammen von allen intoniert. Auf den Worttafeln zusammen hochgehalten, schmelzen sie zum Doppel-Vornamen einer jungfräulichen Frauenfigur zusammen: Heide-Marie. Einzeln gezeigt, verweist "Heide" wie ein Straßenschild auf einen topografischen Flecken, den alten locus amoenus, den heimlichen Treffpunkt vor- oder außerehelicher Liebesspiele, den schon die Römer und später im Mittelalter die Minnesänger lyrisch beschworen und nachfolgende Dichtergenerationen als vielsagendes Motiv aufgriffen. In Wolfgang Protzes heiter-ironischer Moderation verliert sich jedoch das überlieferte sinnliche Ideal im nüchternen Gerangel einer auseinanderdriftenden Alltagsliebe. Neugierig geworden? Frühe Anmeldungen für die 2023er-Termine haben Erfolg!
Auch die "Motorbiene" der 1960er-Jahre, unterwegs auf dem Sozius ihres Rocker-Freundes zum Rummelplatz und Tanzlokal, legt ihren nostalgischen Charme ab, sobald das Publikum den Refrain mitgebrummt hat: "Brrmmbaba-baba, baba-baba". In der parodistischen Umgestaltung zur "Motor-Säge", die lustvoll marodierend alten Baumbestand zu Fall bringt, zielt des Sängers humorvolle Spitze wohl auf die ökologische (Über)Motivation manch eines Baumschützers, gerade im forstwirtschaftlich sensiblen Bundesland Brandenburg.
Das Schwielowseekonzert
beschert seinen Gästen über 75 Minuten ein kurzweiliges Kontrastprogramm. Eine ebenso faktische wie nostalgische Retroshow: mit dörflicher Wintergeschäftigkeit, mit dem dokumentierten Eisigen Winter über neun Monate in den Jahren1739/40 und seinen großflächig zerstörten Obstplantagen, mit Ferch als einstigem Dorf für regen Handel unter Schmugglern und Wilderern, mit dem DDR-Winterlied "Eisblumen blüh'n nur im Winter", mit dem "Ersten Flöckchen Schnee" und mit besinnlichen Versen von Fontane zum Ende des Jahres und des Lebens:
Ich möchte noch wirken und schaffen und tun
Und atmen eine Weile, Denn um im Grabe auszuruhn, Hat's nimmer Not noch Eile.
Ich möchte leben, bis all dies Glühn Rücklässt einen leuchtenden Funken Und nicht vergeht wie die Flamm' im Kamin, Die eben zu Asche gesunken.
("Und wieder hier draußen ein neues Jahr")
Wolfgang Protze liefert dazu aus seiner Schreibwerkstatt nachdenkliche, Fontane nachempfundene Liedzeilen:
Woher wir kommen, wohin wir gehn,
Wonach wir streben, was wir erflehn.
...
Was ist es, was am Ende zählt?
"Ein zu weites Feld!"
(letzte Zeile aus Fontanes Roman Effi Briest)
Und immer dann, wenn ein emotionaler Siedepunkt im erwärmten Raum und Gemüt der Zuhören erreicht ist, wenn sich Stille über den Konzertraum legt, breitet sich eine erfrischende Brise zeitkritischer Unterhaltung aus, wie zum Beispiel hier mit amüsiert-ernsthaftem Seitenhieb auf die auch regional zu erwartende globale Erwärmung:
Wann, wann kommt die Zeit, die Zeit,
wann ist der See wie vom Zauber der Fee zugeschneit?
Werdet ihr noch Winter haben?
Schlittschuh fahren auf dem Schwielowsee?
Selbst das DDR-Kinderlied zum Mitsingen am Schluss, "So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit", mit seinem Potential an herzerwärmender Nostalgie wird burschikos als "Rausschmeißer" annonciert. Dennoch - oder deshalb: Die Publikumsresonanz spricht vollmundig von einem Adventskonzert, das alle Erwartungen mindestens erfüllt und mehrheitlich übertroffen hat.
*****
Das Duo der Fercher Obstkistenbühne geht in die Winter- und Kreativpause.
Im Frühjahr 2023 öffnet die Bühne wieder ihre Hoftore und lädt Zuschauer in den Innenhof zu neuen Kuriositäten aus ihrer Schreib- und Musikwerkstatt ein. Mitmachen ist willkommen!
FERCHER OBSTKISTENBÜHNE
Dr. Ingrid und Wolfgang Protze
Dorfstraße 3a
14548 Schwielowsee, OT Ferch
033209 / 71 440
header.all-comments