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AutorenbildHilda Steinkamp

Über-die-Mauer-Blick zum Tag der deutschen Einheit

Im Gespräch mit Mauer-Malerin Siegrid Müller-Holtz aus Caputh

Siegrid Müller-Holtz, "Gemischte Gefühle", 1990/2009
Schmuddelwetter

am 1. Oktober 2022 an der 1,3 km langen East Side Gallery in Berlin, dem kunstvoll bemalten Stück der Berliner Mauer, die ihre militant-ideologische Vergangenheit überwunden hat, aber mahnend noch an sie erinnert und die Zeit nach der Wende mit ihren Souvenir-Jägern und Mauer-Spechten überdauert hat. Die Strahlkraft der Mauergemälde ist ungebrochen. Wetter hin, Wetter her.

Zum Artist Talk mit Mauergästen

hat Siegrid Müller-Holtz geladen, vor ihrem Gemälde in der East Side Gallery an der Mühlenstraße, nahe der Oberbaumbrücke. Eine kleine Schar hat sich um sie gruppiert, zufällig wie absichtsvoll: zwei Berlin-Besucher aus Dänemark, Irina Grabowsky, Journalistin vom DT64, Siegfried Gwosdz, Künstlerfreund aus Geltow, und Friederike Gehrmann von der Stiftung Berliner Mauer, die zwischen Deutsch und Dänisch auf Englisch vermittelt.

Die Mauerschau an der East Side ist eröffnet!

Warum zwei Jahreszahlen zu Ihrem Bild: 1990 und 2009?

Siegrid Müller-Holtz (SMH):

"1990 habe ich das Original auf diesem Mauerstück gemalt. Das hat lange gehalten. Und dann bekamen wir Künstler 2009 den Auftrag, es noch einmal zu malen. Denn das Mauermaterial war inzwischen brüchig geworden. 1990 hatten wir gedacht, die sind vorübergehend, unsere Bilder, aus der Situation des Mauerfalls 1989 geschaffen, niemand dachte an eine Dauerausstellung."



Wie konnte die Mauer brüchig werden? Schlechtes Baumaterial aus DDR-Zeiten? Nix für die Ewigkeit?!

Friederike Gehrmann (FG): "Am Material lag es nicht. Oben dieser runder Abschluss - der das Rüberklettern von DDR-Flüchtlingen verhindern sollte und konnte! - ist ja noch original. Aber auch nach der bemalten 1,3 km-Meile ging das Hacken weiter. Mauerstücke waren nach wie vor begehrt. Das Bauwerk zerfiel regelrecht. Dann wurde es wiederaufgebaut, die Künstler gingen in ihre zweite Runde. Und der Denkmalschutz wurde noch aktiver."


Das Landesdenkmalamt Berlin hatte sich bereits seit 1991 zum erklärten Ziel gesetzt, die Reste der Berliner Mauer an verschiedenen Standorten entlang des ehemaligen 43 km langen Grenzstreifens zwischen Ost- und West-Berlin zu schützen. Es sind Sinnbilder von historischer Bedeutung. Zeugnisse von dem menschlichen Leid, das sich an der innerdeutschen Grenze abspielte, seit Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961.

Keine Graffiti oder sonstige Sprühattacken mehr?

FG: "Klar, immer mal wieder. Aber dieses Stück zum Beispiel hier wird von der Stiftung Berliner Mauer sauber gehalten. Und im Übrigen wurde 2009 ein Schutzanstrich auf die Bilder aufgetragen, das hält Schmierereien ab."

Wie lange hat das Malen gedauert?

SMH: "So zwischen vier und fünf Wochen. Breite 6 m und Höhe 4 m - das ist ja ein riesiges Stück. Man kam gar nicht zum Malen an sich, weil sich so viele Menschen mit einem unterhalten wollten. Und dann die Internationalität der Künstler! Wir waren ständig im Austausch, so viele Meinungen, Stellungnahmen. Das gemeinsame Tun hat uns so fasziniert, hier an dieser Stelle und zu der Umbruchzeit damals. Ich war so dankbar, dass ich das machen konnte, nicht weil ich vielleicht berühmt werden könnte, sondern weil ich die Möglichkeit hatte, an DER Mauer zu malen. Das hat mir ein besseres Selbstgefühl gegeben. Vorher war ich mit Familie und Beruf als Lehrerin noch nicht so sehr zum Malen gekommen."


Tatsächlich haben im Frühjahr 1990 an diesem längsten erhaltenen Mauerstück 118 Künstler aus 21 Nationen 106 großformatige Wandbilder gemalt. Darunter mit so bekannten Motiven wie dem Trabi von Birgit Kinder, der die Mauer durchbricht, oder dem Bruderkuss von Honecker und Breshnev vom russischen Künstler Dmitrji Vrubel:

Im September 1990 wurde die Bilderreihe offiziell als East Side Gallery eröffnet und weltweit bekannt. Kein Berlin-Besuch ohne Stopover an der international größten Open-Air Galerie!

Apropos "Gefühl". Sie nennen Ihr Gemälde "Gemischte Gefühle". Warum?

SMH: "Ich hatte ja selbst eine Flüchtlingsgeschichte erlebt. Bin 1948 in Stralsund geboren, 1957 mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester in den Westen geflohen, eigentlich gefahren, wir hatten eine vierwöchige Urlaubsgenehmigung. Niemand in der DDR glaubte, dass wir nicht zurückkehren würden. Unsere erste Station war bei Verwandten in Lübeck, auf einem Hausboot, ganz idyllisch, aber dann folgte ein Auffanglager nach dem anderen, in einem Raum mit 30 Menschen zu leben und zu schlafen, das war eine Strapaze für ein Kind, sechs Monate keine Schule. Meine Eltern haben zehn Jahre gebraucht, um sich im Westen zu etablieren, selbst als anerkannte Flüchtlinge. Auch als Ärztin fand meine Mutter nur schwer eine freie Stelle und für meinen Vater als Bürstenmacher gab's überhaupt keine Arbeit im Westen. Er wurde Hausmann, was uns Kindern sehr gefiel. 1971 habe ich in Münster mein Examen gemacht, in Kunst. Pädagogik, Mathematik, und bin dann nach West-Berlin gezogen, da Berlin damals dringend junge Menschen brauchte. Und dort konnte ich die Deutsche Teilung hautnah miterleben, wenn ich mit dem Auto an die Grenze kam, es kein Weiterkommen gab.

Als die Mauer fiel, war ich total erleichtert. Das war so berührend, am Checkpoint Charlie: Bananen, Sekt und Umarmung! Mir war auch klar: Mir ist die Wende vorweggenommen worden. Ich hatte 1957 ein Stück Heimat verloren. Es wird wiederkehren, das, was ich selbst erlebt habe, als Ost-West-Flüchtling. Nur - das müssen jetzt eben andere erleben."


Welch frühe Ahnung vom langwierigen Prozess der Annäherung zwischen Ost und West in Gesamtdeutschland! Auch im 32. Jahr der Wiedervereinigung appellieren am 3. Oktober 2022 in Erfurt Redner an den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Ost und West:

  • Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung: «Wir dürfen uns im Osten nicht auf uns selbst zurückziehen und unsere eigene kleine DDR wiederaufbauen». "Er hat die Ostdeutschen aufgefordert, sich stärker in gesamtdeutsche Debatten einzumischen. Die bisherige Perspektive würde die vielfältigen Lebenswege von Menschen in Ost und West nach 1990 nicht ausreichend berücksichtigen."

  • Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, "warb für ein Miteinander der Deutschen auf Augenhöhe. ... Nur durch Gemeinsamkeit und Solidarität könnten die Krisen und Herausforderungen gemeistert werden."

  • Bundeskanzler Olaf Scholz: "Ein glücklicher Tag. ... Wir alle gemeinsam haben in Deutschland seit 1990 unendlich viel hinbekommen. Wir werden auch die kommenden Aufgaben meistern. Denn unser Land ist ein starkes Land, im Westen wie im Osten. Wir sind zusammengewachsen und zusammen gewachsen."

  • Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ist dafür, "in der Krise zusammenzuhalten und Streit demokratisch auszutragen. Sie wünsche sich weniger Wut und mehr Respekt, weniger Rechthaberei und mehr Neugier, weniger Vorurteile und mehr Empathie."

Der Kreis im Zentrum des Gemäldes? Was soll das?

SMH: "Die schwarze Kugel bricht in die Landschaft ein und breitet sich aus. Die Landschaft wird gesprengt. Bis 1990 hatte ich Landschaftsaquarelle gemalt, Ferienstimmungen eingefangen. Für das Mauerbild bin ich in die abstrakte Malerei gegangen."


Und das Gedicht links im Bild?

SMH: "Da habe ich praktisch in Worten ausgedrückt, was mein Bild aussagen will: Die deutsch-deutsche Teilung, die Diktatur im Osten, das war 'Unheil von Menschenhand', menschenverachtend, ein 'gestörter Kreislauf der Natur'. Und das kann wieder passieren. Afghanistan, Syrien, Iran. Die Ukraine. Es hört nicht auf."


Mit meinem Bild und Gedicht will ich ein Mahnmal setzen, damit Frieden und Mitgefühl für Menschen in der gesamten Welt erhalten bleiben!"

Wer hat Sie 1990 entdeckt, als Mauer-Malerin?

SMH: "Ich mich selbst! Ich hatte 1989 erst meine erste Kunstausstellung in einer Westberliner Galerie. Es kursierte damals in der Stadt und weltweit die Nachricht, dass es eine Möglichkeit gibt, Segmente der Mauer zu bemalen, und zwar auf der Ostseite. Ich bewarb mich bei den Organisatoren mit meinem Bild 'Gemischte Gefühle', als Zeichnung/Aquarell in DIN-A3. Meine Bewerbung wurde bestätigt. Ich erhielt einen Platz zugewiesen von sechs Segmenten, das Mauerstück Nr. 10. Ich war also eine der Ersten bei diesem Gemeinschaftsprojekt."


Wer Siegrid Müller-Holtz in ihrem Interview "Gemischte Gefühle" von 2021 live erleben möchte, kann dies über diesen Link tun: https://www.eastsidegalleryausstellung.de/de/kunstwerke/mueller-holtz-gemischte-gefuehle/

Und welcher Anlass hat uns eigentlich hier zusammengebracht?

FG: "Die Stiftung Berliner Mauer hat ein Ausstellung geplant, die sollte diese Woche eröffnet werden. Aber es gab Probleme mit den Lieferketten, Stelen kamen nicht rechtzeitig an. Die Ausstellung kommt später. Aber die Termine mit den Artist Talks wollten wir nicht verschieben. Vorerst gibt es nur ein paar Informationsstände, hier gleich hinter der Mauer, auf der Westseite."


Auf der Webseite der Stiftung Berliner Mauer erfährt man mehr über das neue East Side Gallery Projekt:

EAST SIDE GALLERY NEU ENTDECKEN
Wir wollen neue Perspektiven auf den Ort, seine Geschichten und die Kunst eröffnen. Denn obwohl die East Side Gallery weltberühmt ist, kennen nur wenige die Menschen und die Debatten, die sich mit dem Ort verbinden. Mit einem vielseitigen Programm auch für junge Menschen und Familien wird die East Side Gallery zu einem Ort des Austauschs über Grenzen, Kunst und Stadt gemeinsam mit uns und vielen Künstlerinnen und Künstlern. 

Welche Veranstaltungen Besucher an der East Side Gallery bis Ende Oktober erwarten, lässt sich über diesen Link erfahren:



Wir wechseln auf die West Side der Mauer

mit einem letzten fotografischen Blick zurück auf Mauerkunst mit Künstlerin und Gästen:

Auf der Westseite der Mauer versorgt uns ein Info-Stand der Caputher Künstlerin mit allerhand künstlerisch wie politisch Denkwürdigem. Weiter gen Westen ein trauriger Anblick: die Sicht auf die Oberbaumbrücke verschandelt durch die beiden Hotelschiffe für Touristen.

Das sei ja noch gar nichts, weiß Friederike Gehring von der urbanen und gewerblichen Entwicklung im unmittelbaren Osten der Mauerreste zu berichten:

FG: "Bauträger und Investoren der Mercedes Benz Arena bestanden darauf, von den Fenstern einen unverstellten Blick auf die Spree genießen zu können. Deshalb klafft dort diese riesige Lücke in der East Side Gallery. Wirtschaftlicher Standort und Wasserweg gehörten zusammen, meinten sie.

Ein bescheidener und kunstvoll gestalteter Mauerdurchblick

Die Diskussion, wem gehört dieser Teil der Stadt: den Künstlern oder den Geschäftsleuten? Die ist zum Glück an dieser Stelle durch die Denkmalpflege beendet."


Erstmal. Stadtentwicklungspläne und Denkmalschutz in Berlin - eine pulsierende Allianz. Die Fragen gehen nicht aus: nach dem Erhalt eines Denkmals in der wachsenden Metropole und schließlich auch: Wozu öffentliche Kunst? Zum kontroversen Thema "Schlaglicht: Wem gehört die Mauer?" lädt die Stiftung Berliner Mauer am Samstag, dem 29.10.2022, von 11-12 Uhr an die East Side Gallery ein.


Mauerspuren

gibt es immer noch. Geschichten hinter den Bildern, wie sie von Siegrid Müller-Holtz erzählt werden, tragen zu einem lebendigen Geschichts- und Demokratieverständnis bei. Und nicht nur am Gedenktag der Deutschen Einheit alljährlich am 3. Oktober.


*****

Siegrid Müller-Holtz schafft Kunst und stellt sie aus in ihrem

Atelier PRO ARTE in Caputh.

Im aktuellen KreativHerbst in Schwielowsee ist die Künstlerin mit

Workshops beteiligt:

"Wiederverwertung von ausrangierten Büchern"

am 8./15./22.10.2022, 14 - 18 Uhr.

Anmeldung: 0160 - 5990766

siegrid@mueller-holtz.de



Kostproben ihrer Buchskulpturen:









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